Erste wirkliche Probe; Herr Bilse hält eine Anrede, das Orchester scheint sich zu schämen, wie immer waren einige sehr tüchtige Leute dabei, welche den andren das Bewußtsein ihrer Pflicht beigebracht. Es geht gleich sehr gut; R. scherzt und neckt die Leute mit dem Bußtage[1]. Ohne zu große Ermüdung geht es ab. Wir fahren heim und frühstücken, R. ruht sich aus, geht dann spazieren, sieht »den Lenz, in Leinwand eingewickelt, in Berlin einziehen«, nämlich große Bäume, welche man für die Gärten verpflanzt. Um 5 Uhr Lothar Bucher zum Diner bei uns; gemeinschaftliche Betrachtungen über das Elend in Deutschland; überall Betrug und schlechte Arbeit, die reichen Leute lassen alle ihre Möbel aus Paris kommen; unser Freund reiste nach London, um Kleider verfertigen zu lassen. –
Von Bismarck erzählt er, daß er habe alle diese Angriffe auf den katholischen Klerus mit einem Male bringen wollen, er habe aber solche Not mit allen Mächten und müßte wie er sich selbst dem Hund den Schwanz stückweise abhauen.
R. sagt, vor vier Jahren habe er die Jesuiten empfohlen, nun empfehle er die Juden! Sie fräßen uns auf, meint auch Bucher, nun sei gar ein Israelit (Friedland)[2] Minister! – Zum Abend Scholz[3], Dohm[4] und Niemann; ich treffe die Gesellschaft wieder an, wie ich vom Opernhaus heimkomme, wo »Die Makkabäer« gegeben wurden. Seltsamer Eindruck dieser [Oper], entschieden kann man jetzt nur noch Effekt machen, wenn man im Wagnerischen Stile schreibt.
[1] als Bußzeit kannte die Kirche anfangs nur die Advents- und die österliche Fastenzeit; hinzu kamen dann vier Quatemberfasttage, welche als vierteljährige Bußtage auch in die evangelische Kirchensitte eingingen; im 19. Jh. reduziert auf zwei im Jahr, von dem im 20. Jh. nur der im November übrigblieb.
[2] hier eindeutig Rudolf Friedenthal, (1827-1890), der 1874-79 Landwirtschaftsminister war.
[3] Wilhelm Scholz (1824-1893), seit 1848 beim Kladderadatsch in Berlin tätig.
[4] Friedrich Wilhelm Ernst Dohm (1819 – 1883), Redakteur, Schriftsteller und Übersetzer, Chefredakteur des Kladderadatsch, ihm wird das Wort „Kalauer“ zugeschrieben (durch seine satirische Kolumne aus Calau), Großvater u.a. von Katja Mann.