Montag, 4. April

Singapore

Es ist gehörig heiss; wir bleiben bis gegen ½ 12 Uhr zu Hause; ich musste zur Post und in einen Buchladen, wo ich mir Bradshaw’s Handbook kaufte, in dem wirklich alles steht, über die ganze Erde; ich las gleich nach über Canton, was ausserordentlich interessant sein muss. Ausserdem nahm ich noch ein kleines malayisches Handwörterbuch, um bisschen zu lernen. Ich verlangte ein Buch über die historische religiöse Entwicklung der Inseln und Hinterindiens; natürlich giebts das hier nicht u.. ich werde es wohl erst im guten alten Deutschland bekommen. Die Commis lesen natürlich nur la Terre[1] und Tolstoi! – 
Im Hôtel brachte uns der Capitän das Geld für die Rechnung, welche für jeden 25 Dollars [75 Mark] betrug. Ich kaufte mir Photographien, 1 Stock, 2 Bambus-Matten u. andere Kleinigkeiten für nach Hause. Die Läden sind schlecht hier und theuer; man bekommt die Sachen fast billiger in Europa.
Als wir nachmittags einen kleinen Gang machten, da hörten wir plötzlich, mitten im Gewirr der schreienden Verkäufer, der rollenden Wagen, pfeifenden Schiffe, aus einem grossen öffentlichen Haus einen Chor aus der Johannes-Passion! Wie Eis rann es mir durch die Glieder, wir standen wie gebannt und trauten unsren Sinnen nicht; doch es war richtig, denn als wir näher gingen, merkten wir, dass da oben eine Probe abgehalten wurde für Ostern oder Charfreitag vielmehr. Es war einer der Choräle, welche ich von Kniese[2]gehört hatte, doch mir fielen nicht die Worte dazu ein. Der Eindruck war auf uns beide so überwältigend, die Urklänge der Religion, der felsenfeste bewusste Glaube Bach’s drängen so unmittelbar, so beseligend und alles andere verschwinden lassend in uns, dass wir uns gestehen mussten, nie von diesem Genie einen gleich‘ gewaltigen Eindruck gehabt zu haben. 
So feierten wir die heilige Woche! Mitten in dem buntesten tropischsten Treiben dringen bis zu uns diese wundervollen Klänge. Konnte uns etwas Schöneres zu Theil werden? Und gewiss war es kein Zufall, dass wir da vorbei kommen mussten! Vielleicht sangen sie es gerade zur selben Zeit in Bayreuth und Mama hörte zu. – Wir zwei waren so ergriffen, dass wir den ganzen Heimweg kein Wort sprechen konnten. – 
Nach dem Dinner machten wir uns fertig, vertheilten die stets lang ersehnten Trinkgelder und fuhren im Wagen mit all unserem kleinen Zeug hinaus zum New-Harbour. Die Fahrt war wundervoll. Der Neumond streute seine sanften Farben auf die hängenden Palmenzweige, die Luft war himmlisch, regungslos und verschwimmend; in der allgemeinen Harmonie gingen Chinesen und Malayer schleichend und schweigsam hin und wieder.
Im Schiffe angelangt empfing uns der Capitän; die Briefe waren leider noch nicht da, obwohl das Schiff schon um 4 Uhr eingelaufen war. Wir tranken Cacao und gingen dann aufs Deck, um zuzusehen wir bei elektrischem Lichte die eisen-Waaren aus de Schiffe geladen wurden. Es ist dies eine tüchtige Arbeit und sie geht nicht so schnell hier vor sich, wie der Capitän wohl wünschte infolge der Hitze und geringeren Ausdauer der Klings und Chinesen. 
Es wurde bis 12 Uhr gearbeitet; dann legten wir uns zu Bett und schliefen in den neuen Mücken-Schleiern gut, obwohl das Einschlafen lange dauerte durch ohnmächtiges Kämpfen gegen das impertinente  Orchester, welches unsichtbar auf der äusseren Seite des Schleiers sich aufgestellt hatte. Ich träumte vom guten Professer Nägelsbach[3], den ich entsetzt hatte durch einen Schulaufsatz, worin ich Darwin verherrlichte.


[1] Roman von Emile Zola.
[2] Julius Kniese 1848 – 1905 Musikalischer Beirat der Festspiele.
[3] Pfarrer und Religionslehrer Siegrfieds.

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