Freitag 15ten (15. Januar 1875)

Cosima Wagner Tagebücher

R. erklärte gestern: Nun er mich bekommen hätte, nach seinem »zerlumpten Leben«, wisse er sicher, er würde unsinnig alt werden, wir beide würden an der Euthanasie sterben auf dem Sofa in seinem Stübchen, welches er dafür eingerichtet habe. »Nein«, ruft er heute früh aus, wie ich zu ihm in den Saal komme, »daß ich dich noch gewonnen habe! Du bist aber die einzige, die für mich taugte, so hoch und kindlich mußte sie sein, jetzt will ich auch unsinnig lange leben.« Der Himmel segne ihn. Er behauptet, unser Glück wäre nie da gewesen und käme nie wieder – ich glaube es, insofern er nie wiederkommen wird! 

Abends singt er mir »Sei mir gegrüßt« und erklärt es in Bezug auf Empfindung und künstlerischer Durchführung für das schönste Lied von Schubert; es ergreift uns zu Tränen; das ist deutsch; so rein und keusch, innig … R. entsinnt sich, es von seiner Schwester Rosalie gesungen zum ersten Mal gehört zu haben. – 

Rosalie Wagner, die Lieblingsschwester

(Gustav Kühne)

In Gfrörer gelesen. Beim zu Bett Gehen singt R. »Spinne Margarethe« aus der »Dame blanche«[1] und sagt: Das ist das Eigentümliche der Franzosen gewesen, eine graziöse Resignation, mit liebenswürdiger Form über das Elend des Daseins lächelnd wehmütig hinwegzugleiten. Im tragischen Pathos sind sie widerwärtig. –


[1] Oper »Die weiße Dame« von Boildieu.

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